BECHOL LASHON „Ich bin alarmiert“

Elisabetta Rossi Innerhofer , Präsidentin der jüdischen Gemeinde Meran über antisemitische Proteste, den Konflikt im Gazastreifen und den Friedenswunsch der israelischen Bevölkerung

Tageszeitung: Frau Rossi, seit in ganz Europa Proteste gegen den israelischen Staat ausgebrochen sind, mehren sich die Klagen über antisemitische Aktionen. In Paris stand ein jüdischer Lebensmittelladen in Brand, in Berlin wurden rassistische Rufe wie „Jude, Jude, feiges Schwein“ skandiert. Sind Sie besorgt?
Elisabetta Rossi: Ich bin mehr als nur besorgt, ich bin alarmiert, auch weil es keine neue Entwicklung darstellt. Vor Jahren war ich selbst davon überzeugt, dass der ganze Antizionismus, die Rufe gegen Juden etc. nur die Kritik an der Politik Israels widerspiegeln. Jetzt nicht mehr. Die antisemitischen Bewegungen und Aktion, die sich in Italien glücklicherweise noch in Grenzen halten, haben auf europäischer Ebene zerstörerische Ausmaße angenommen.

Woher kommen diese Entwicklungen?
Sie sind das Ergebnis eines latenten Antisemitismus, der bei der richtigen Gelegenheit ausbricht. Sie sind der erste Journalist, der mich wegen dieser Frage kontaktiert. Als in Israel die drei Jugendlichen entführt wurden, haben wir eine Demonstration organisiert. Ich habe mit mehreren Journalisten gesprochen, aber keiner hatte Zeit, vorbeizukommen.

Sie werfen dem Journalismus vor, antisemitisch zu sein?
Nein, auf keinen Fall. Aber in einem solch kritischen Moment wäre es angebracht, auch einmal nach unserer Meinung zu fragen. Die Raketen, die ständig auf Israel regnen, tun das schließlich nicht erst seit gestern, sondern seit vielen Jahren. Dann heißt es immer, das seien eh nur Feuerwerkskörper, man solle sich nicht so aufregen usw.. Viele Menschen müssten solche Einschläge einmal über ihren eigenen Dächern erleben, um zu sehen was das bedeutet.

Sie sehen keine Fehler in der Verteidigungspolitik Isreals? Natürlich, ich will damit nicht sagen, dass Israel keine Fehler macht. Der Staat Israel ist nicht unfehlbar. Das aber ist ein Krieg der Hamas. Sie wollten diesen Konflikt und haben ihn bekommen. Seit dem vollständigen Abzug Israels aus den Gaza-Siedlungen im Jahr 2005 ist das ein Gebiet, dass sich sogar von der palästinensischen Westbank abschottet. Zum Glück haben wir den „Iron Dome“, ohne das Abwehrsystem lässt sich leicht ausrechnen, wieviele Opfer wir zu beklagen hätten, wahrscheinlich über 5.000.

Erwarten Sie nach den Ausschreitungen in vielen europäischen Ländern derartige Proteste auch in Südtirol?
Sicher nicht so schwere. Die jüdische Gemeinde hat immer so gezeigt, wie wir sind. Niemand von uns ist ein Kriegstreiber. Ich kenne die Israelis gut, habe dort gelebt und ich spüre den Hunger nach Frieden. Die Bevölkerung Israels will nichts lieber, als in Frieden zu leben. Einem großen Teil der Palästinenser geht es übrigens gleich, das Krebsgeschwür der gesamten Region sind die Hamas. Man kann mit diesen Leuten keinen Frieden verhandeln, es ist nicht möglich, sie an einen Tisch zu bekommen. Heute wurden in Italien Flughäfen alarmiert, weil man sich selbst im Ausland vor politischen Attentaten fürchtet.

Die Protestierenden behaupten oft, ihnen läge nur die Zivilbevölkerung am Herzen…
Wir bedauern die zivilen Opfer auf palästinensischer Seite sehr, wir tun, was wir können, um Opfer zu vermeiden. Eine Sache, die mich anekelt, ist allerdings die Vorstellung von Opfern erster und zweiter Klasse. All diese Protestierenden sind nicht zu sehen, wenn es um die hunderttausenden Opfer in Syrien, in Tschetschenien usw. geht. Das macht mich wütend. Die Bevölkerung im Gazastreifen muss sich gegen die Hamas auflehnen und sie nicht mehr in die Regierung wählen. Früher oder später wird es Frieden geben, davon bin ich überzeugt. Frieden aber schließt man mit dem Feind, nicht mit der UNO und nicht mit Ägypten, aber das ist natürlich schwer, wenn dieser Feind als einziges Ziel hat, dein Land vollkommen zu eliminieren.

Momentan wandern viele Juden und Jüdinnen aus Frankreich aus, weil sie antisemitische Proteste fürchten. Warum kämpfen wir im Jahr 2014 mit diesen Problemen?
Antisemitismus schlummert in großen Teilen der Bevölkerung. Wenn es gerade opportun ist, werden die vielen ermordeten Juden von allen bemitleidet, die vielen lebenden aber sind manchen Leuten weniger sympathisch. Der Mensch lernt nicht aus der Geschichte, es gibt diesen latenten Antisemitismus, der in Zeiten der Krise immer wieder aufbricht. Dann heißt es: „Die Juden kontrollieren die Medien“, „Die Juden kontrollieren die Wirtschaft“ etc. Ich sage: Würden wir die Medien kontrollieren hätten wir nicht soviel israelkritische Presse. Würden wir die Wirtschaft kontrollieren, würde ich nicht täglich 12 Stunden arbeiten.

Der Gaza-Konflikt befeuert die Vorurteile?
Genau, da gibt es dann plötzlich eine Diskussion um die Anzahl der Toten. Unter den Palästinensern gäbe es zu viele und in Israel zu wenige. Das liegt daran, dass Israel in den Schutz seiner Bevölkerung investiert. Die Hamas tut das nicht, im Gegenteil. Sie baut nach Israel führende Tunnel neben Schulen und Krankenhäusern. Bei Bombenanschlägen zwingen sie die Zivilbevölkerung oft, in ihren Häusern zu bleiben.
Welche Erwartungen haben Sie an das Ende des Konflikts? Was wünschen Sie den beiden Parteien? Ich wünsche mir einen Diskurs. Warum werden diese Raketen abgeschossen? Warum wird der Krieg immer wieder neu angefacht? Wir könnten dann über weitere Zugeständnisse zur Autonomie reden, im Moment aber ist eine Übereinkunft fast unmöglich.

(Die Neue Suedtiroler Tageszeitung, 22. Juli 2014)