BECHOL LASHON Deutsch – Das letzte Geheimnis der Finzi-Contini
Bucher über die Ermordung der europäischen Juden gibt es viele, und es sind – dem unendlich großen Verbrechen entsprechend – nie genug. Berichte, die direkt von Gaskammern und Erschießungen handeln, stehen neben subtileren Erzählungen, in denen die Leser sich das Grauen vorstellen müssen. “Die Gärten der Finzi-Contini” von Giorgio Bassani ist solch ein meisterhafter Roman, in dem auf den ersten Blick gar nicht viel passiert. Doch gerade wegen der fast idyllischen Isolation der Protagonisten in ihrem ummauerten Anwesen mit Park und Tennisplatz mitten in der Altstadt von Ferrara ist dieses schwebende Stimmungsbild am Vorabend des Grauens ein Meisterwerk der modernen Literatur geworden. Zu Bassanis Diskretion passt es, dass die handschriftliche Urfassung von “Il Giardino dei Finzi-Contini” erst jetzt an die Öffentlichkeit kommt. Bassani hatte seine sechs Notizmappen, darunter vier große Bilanzhefte für Buchhalter, einer Frau geschenkt, die mit Fug als Vorbild der rätselhaften Micol aus dem 1962 erschienen Roman zu verstehen ist: Teresa Foscari Foscolo. Ihr widmete er das Werk, und die Beschenkte hütete die Handschriften, die mit zahllosen Streichungen von einem komplizierten Schaffensprozess zeugen, bis zu ihrem Tod im Jahr 2007. Es muss eine sehr persönliche Freundschaftsgeste gewesen sein. Denn die Forschung kannte aus Bassanis Bestand zwar ein Maschinenskript, doch von der immer wieder verworfenen und umgestellten Urfassung wusste man nichts. Nun schenken ihre Nachfahren das unschätzbare Dokument der Stadtbibliothek von Ferrara; es wird im künftigen jüdischen Museum der Stadt ausgestellt werden – passenderweise im früheren Gefängnis, in dem Bassani als Resistenzakämpfer selbst inhaftiert war, bevor er der Deportation in den Untergrund des römischen Widerstandes entkommen konnte. Wie so viele Überlebende ließ sich Bassani mit der Verarbeitung der dramatischen und zugleich gestundeten Lebenszeit unter Faschismus und deutscher Besatzung viel Zeit. Ende der 1950er Jahre hatte sich Bassani in Rom als hoher Funktionär beim Staatsfernsehen Rai durchgesetzt, ebendort lehrte er Theatergeschichte und wurde als Präsident des Kulturbundes “Italia Nostra” bekannt und einflussreich. Dann erst legte er seine Ferrara-Romane vor. 1970 verfilmte Vittorio De Sica, unter anderem mit Helmut Berger, “Il Giardino dei Finzi-Contini”, und machte damit das Werk weltbekannt. Zwischen Ferraras Backsteingassen kann man manche Orte des Romans heute noch spielend wiederfinden: etwa den Tennisclub “Marfisa D’Este”, aus dem die Juden ausgeschlossen werden und sich danach im abgeschiedenen Park der Finzi-Contini zum Sport verabreden. Dass es in der Stadt eine jüdische Familie Finzi-Magrini gab, von deren Mitgliedern niemand die Shoah überlebte, ist seit Jahren bekannt. Bassani räumte selbst ein, dass diese Mitbürger für die literarischen Schicksale Pate gestanden hatten. Nur eben die umflorte, kapriziöse Micol war seine Zugabe. Romanfiguren, so sagte er einmal, denke er sich nicht aus: “Sie kommen zu mir, und ich betrachte sie und höre ihnen zu.” Die Literaturwissenschaft wird jetzt noch viel mehr über die Entstehung des Schlüsselwerkes herausfinden. Doch eines lässt sich jetzt bereits sagen über das heikle Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit. Anders als die todgeweihte Micol des Romans, die noch vor ihrem richtigen Leben nach Auschwitz deportiert wird, war Teresa Foscari keine Jüdin und stammte als venezianische Umweltschützerin und “rote Gräfin” aus der Familie des italienischen Nationaldichters Ugo Foscolo nicht einmal aus Ferrara. Und doch war Bassani von der Aura dieser schönen Freundin derart hingerissen, dass er seine jüdische Heldin ihr zum Ebenbild machte. Bassani wusste: Das Geheimnis großer Literatur liegt im Unausgesprochenen, nicht im Offensichtlichen.
*Die Welt, 30.04.2016