BECHOL LASHON Deutsch – Sizilianisches Tauchbad
In dem heutigen Syrakus (…) ist jetzt nichts Merkwürdiges mehr, als die alten Minerventempel«, notierte der Schriftsteller Johann Gottfried Seume lapidar, als er nach einer viermonatigen Wanderung am 1. April 1802 in der sizilianischen Stadt ankam. »Syrakus kommt immer mehr und mehr in Verfall«, ergänzte er kritisch, »die Regierung scheint sich durchaus um nichts zu bekümmern.«
Dass sich in dem malerischen Städtchen, verschüttet, tief unter der Erde, eine der ältesten europäischen Mikwen befand, war dem Reisenden nicht bekannt. Hätte Seume das Ritualbad besichtigen können, hätte er es bestimmt in seinem Buch Spaziergang nach Syrakus gewürdigt.
STADTGESCHICHTE Das an der südöstlichen Küste Siziliens gelegene Syrakus, im siebten Jahrhundert v.d.Z. von den Griechen gegründet, galt lange Zeit als bedeutende und mächtige Stadt – sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Dichter und Philosophen wie Aischylos, Platon und Archimedes lehrten hier.
Nachdem die Römer die Stadt einige Jahrhunderte später erobert hatten, siedelten sich vermutlich auch die ersten jüdischen Händler in Syrakus an. Weitere wurden nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 d.Z. als Sklaven dorthin verschleppt.
Bis zum Ende des Mittelalters entwickelten sich unter römischer, byzantinischer und arabischer Herrschaft nicht nur in Syrakus, sondern auch in Messina, Catania, Palermo, Noto oder Agrigento bedeutende jüdische Gemeinden. Die 40.000 bis 50.000 Juden waren als Händler, Bankiers, Goldschmiede oder Ärzte tätig, lebten ihre Religion und Kultur – bis sie durch die spanischen Eroberer vor die Wahl gestellt wurden: Taufe oder Tod.
INQUISITION Ihre endgültige Vertreibung aus Sizilien erfolgte 1492 durch die spanische Inquisition. Die Synagogen wurden zerstört oder zweckentfremdet, die Ritualbäder zugeschüttet oder einfach vergessen – wie auch die während der byzantinischen Zeit erbaute Mikwe in Syrakus.
Das jüdische Bad befindet sich unter dem Hotel »Alla Giudecca« im Zentrum des ehemaligen jüdischen Viertels, in dem Ende des 14. Jahrhunderts bis zu 5000 Juden lebten. Ein verheerendes Erdbeben im Jahr 1693 zerstörte viele Gebäude, die jedoch im Barockstil wiederaufgebaut wurden.
ENTDECKUNG Vor etwa 25 Jahren kaufte die Italienerin Amalia Daniele einen alten Palazzo in der Via Giovanni Battista Alagona, um ihn zu einem Hotel umzubauen. Bei den umfangreichen Arbeiten wurde eine zugemauerte Tür entdeckt. »Wir wollten wissen, was dahintersteckt«, erzählt Daniele.
Also wurde die Wand eingerissen. Dahinter lag ein Gang, der in den Keller führte. Nachdem Steine und Schutt aus Jahrhunderten entfernt waren, kam ein enges und steiles Treppengewölbe zum Vorschein. Rund 50 Stufen führen 18 Meter hinunter in einen großen Raum mit drei Wasserbecken, gespeist aus einer nahe gelegenen Quelle.
Für die Hotelbesitzerin war es keine Frage, dass dieser Ort, an dem bis zum Ende des Mittelalters die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft von Syrakus im klaren und kühlen Wasser ihre rituelle Reinheit erlangten, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden musste.
TOURISTEN Nachdem Rabbiner und Historiker die einzigartige Entdeckung besichtigt hatten, kamen bald auch Touristen aus aller Welt. Für viele bedeutet der Besuch der Mikwe von Syrakus eine unvergessliche Reise in die Vergangenheit. Die Stille, die nur vom Plätschern einzelner Wassertropfen durchbrochen wird, hinterlässt eine intensive Erinnerung an diesen erhabenen Ort.
Ein halbes Jahrtausend lang lebten keine Juden in Syrakus. Doch vor einigen Jahren begann der gebürtige Sizilianer Rabbi Stefano Di Mauro, der über 50 Jahre in den USA gelebt hatte, mit dem Aufbau einer jüdischen Gemeinde. Im Januar 2013 versammelte sich eine kleine Schar von Betern in der Synagoge, um mit ihrem Rabbiner die Esther-Rolle zu lesen und Purim zu feiern – zum ersten Mal nach 500 Jahren!
Auch die antike Mikwe unter dem Hotel wird wieder genutzt: Einige Konvertiten vollzogen hier den endgültigen Eintritt in die jüdische Gemeinschaft – mit ihrem vollständigen Untertauchen in reines und fließendes Wasser.
*Judische Allgemeine, 15.12.2016