BECHOL LASHON Deutsch – Die Musik der Anderen
Aus rein demografischer Sicht und während der größten Deportationsphase ähnelten die im deutschen Mutterland erbauten Konzentrationslager kleinen Wohngebieten. Zivilgefangene waren nach 1941 oft zusammen mit sowjetischen Kriegsgefangenen (eine Behandlung gemäß den Genfer Konventionen wurden ihnen vom Reich nicht gewährt) und sie waren nur wenige Blocks von aus den verschiedensten Gründen Deportierten entfernt.
Die sozialen, sprachlichen und religiösen Minderheiten in den Konzentrationslagern waren unzählbar; Sorben der Wehrmacht oder des serbischen Widerstands gemäß ihrer geografischen Herkunft, esperantosprachige oder der Glaubensgemeinschaft der Bahai angehörende Polen, britische Quäker, die Lehrer an holländischen Schulen waren, evangelische Pastoren, griechisch-orthodoxe Mönche vom heiligen Berg Athos, Siebenten-Tags-Adventisten, tschechoslowakische Unitarier, Geistliche der altkatholischen Kirche, bosnische Imame und Moslems, Sufi. Alle schrieben sie ausnahmslos und unter jeglichen Bedingungen Musik in den Konzentrationslagern.
Im April 1939 wurde von der französischen Regierung in der Nähe der Stadt Gurs nördlich der Pyrenäen ein Flüchtlingslager für politische Flüchtlinge, Basken und republikanische Kämpfer der Internationalen Brigade, die Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs waren, gegründet. Nach dem zweiten Waffenstillstand von Compiègne übernahm Vichy die Kontrolle und es wurde ein Internierungs- und Durchgangslager für 18.000 deutsche Juden (1.100 davon starben in Gurs). In Gurs schuf der deutsch-französische jüdische Komponist Kurt Levy [Charles Leval] eine Revue von 22 Bildern mit Begleitung durch das Orchester „Tommy Green und seine Camping Boys“ (der englische Begriff „Camping“ war ein klares Wortspiel mit der Bedeutung des Wortes „Lager“), während der baskische Komponist Regino Sorozábal mehrere Stücke schrieb und sein „Euskaldina Orkestra“, ein baskisches Orchester, dirigierte.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen waren in Deutschland die Bibelforscher (seit dem 26. Juli 1931 werden sie Zeugen J–as genannt) die größte europäische Gemeinschaft von Anhänger der christlichen Bewegung von Charles Taze Russell. Sie wurden aus mehreren Gründen verfolgt: die Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls zu verpflichtendem Wehrdienst (1935 in Deutschland wiedereingeführt), sowie die Verweigerung, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten, sich der Autorität des nationalsozialistischen Regimes zu unterstellen oder verschiedene Symbole des Nationalsozialismus zu akzeptieren, wie zum Beispiel die Anmeldung ihrer Kinder zur Hitler-Jugend und der Fahnengruß des Dritten Reichs. Circa 10.000 Bibelforscher wurden in die im deutschen Mutterland erbauten Konzentrationslager gebracht, 250 davon starben.
Im März 1923 schloss sich der deutsche Pianist und Komponist Erich Hugo Frost (auf dem Foto) der Lehre der Bibelforscher an und 1924 erhielt er von der Wachtturm-Gesellschaft den Posten als Aufseher bei ihrem Kongress in Leipzig. Am 27. März 1937 wurde Frost von der Gestapo verhaftet und erst nach Esterwegen und dann nach Sachsenhausen gebracht, wo er gezwungen wurde, zunächst als Schuster und dann bei einer Kläranlage zu arbeiten.
In Sachsenhausen gab er Konzerte für die Wachen und im Frühjahr 1941 komponierte er zwei Stücke für einen Männerchor: „Welch ein Duften durch das Land zieht“ und „Fest steht in großer, schwerer Zeit“. Letzteres wurde vom Autor und anderen Glaubensgenossen auswendig gelernt – jeder von ihnen lernte eine Strophe – und dann wurde es in einem Kaninchenstall des Konzentrationslagers versteckt und heimlich an ihre Glaubensgenossen in der Schweiz geschickt, die es an den Hauptsitz, die Watchtower Society in Brooklyn, übermittelten. 1950 wurde das Lied ins Englische mit dem Titel „Forward, You Witnesses“ übersetzt und im New Songbook der US-amerikanischen Kongresse der J–h’s Witnesses veröffentlicht.
Ende Juli 1941 wurde Frost nochmals deportiert, erst nach Neuengamme (wo er 1943 das Stück für einen Männerchor und Orgel „Tag des Gewölks“ schrieb) und 1943 nach Alderney, eine der Kanalinseln des Ärmelkanals, die der britischen Krone unterstand und im Juni 1940 von der Wehrmacht besetz wurde. Die Wehrmacht ließ vier Konzentrationslager auf der Insel erbauen, die eine Art Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme waren. Dort blieb Frost bis zur Befreiung des Konzentrationslagers am 5. Mai 1945 und schrieb während dieser Zeit ein Kampflied für einen Männerchor.
Das Wiederfinden von Musik, geschrieben von Menschen aller Glaubensrichtungen und mit jeglichem künstlerischen Background, die verfolgt, verhaftet oder deportiert wurden, ist nicht nur typisch für einen Musiker, sondern für das ganze jüdische Volk.
Diese Musik, die mitten im Leiden von Menschen verschiedenster Religionen und sozialen Gruppen entstanden ist, kann nur von einem Volk entdeckt und wertgeschätzt werden, für das die Erinnerung nicht nur mentale Übung, sondern Vermächtnis und Teil des Geistes bedeutet.
*Übersetzung von Clara Erhet, Studentin der Universität von Regensburg und Praktikantin bei der Zeitungsredaktion der Union der jüdischen Gemeinden von Italien (UCEI).