BECHOL LASHON Deutsch – Davor, danach, wer und warum

anna segreAnna Segre

Warum ist der Schurke ein Schurke geworden? Weshalb findet sich der Protagonist letztlich in exakt derselben Situation vor, in welcher wir ihn zu Beginn sehen? Wer ist eigentlich dieser Nebencharakter, der in einigen kurzen Szenen auftaucht? Was wird unseren Hauptfiguren 20 Jahre nach Ende der Handlung widerfahren sein? Von Filmen zu Büchern lassen sich Einige die Fortsetzungen, Vorgeschichten, die Handlung aus einem anderen Blinkwinkel, sowie Geschichten in Bezug auf Nebendarsteller und Weiteres entgehen. Dies ist kein neueres Phänomen. Schon Dante verfasste eine bekannte Fortsetzung der Odyssee (ohne diese überhaupt gelesen zu haben); lange Zeit vor ihm variierten bereits Vergil und Ovid das homerische Epos, indem sie Aeneas und die trojanischen Begleiter des Odysseus auf verschiedenste Entkommene von hier und dort, von der Insel des Polyphems oder dem Hause der Kirke, treffen lassen. Im jüdischen Kontext erfolgt diese Funktion durch den Midrasch: Nun ist es wahr, dass die Tora vom Anfang ausgehend zu schildern beginnt und nur wer weise und reif ist, sich überhaupt erst fragen kann, was wohl vor der Erschaffung der Welt geschehen sein mag, jedoch sind viele uns von Beginn an bekannte Persönlichkeiten (wie Noah oder Abraham) bereits erwachsen und/oder jemandes Vater, Mutter, Ehefrau oder -mann. Der Midrasch erzählt uns folglich all diese fehlenden Teile: Weswegen hatte Mose Sprachprobleme? Wer war Jonah bevor er den Auftrag erhielt, in Ninive zu predigen? Warum weigerte er sich, dort hinzugehen? Und so weiter.
Es ist sonderbar festzustellen, wie diese Vorgeschichten, Fortsetzungen oder Nebenhandlungen unsere Perspektive über das Geschehen verändern können: Auch die Kindheit und Jugend eines Charakters kann man, einmal vertraut mit ihr geworden, kaum noch ausblenden, ebenso wenig ist es unmöglich, den weiteren Handlungsverlauf nach eigentlichem Ende der Geschichte zu vergessen. Odysseus ist nun bei allen der Held des Bewusstseins, welcher bis zu den Säulen des Herkules und sogar noch weiter vordringt, auch wenn Homer nicht im Traum darauf gekommen wäre, etwas dergleichen zu erzählen. Genauso verhält es sich häufig mit dem Midrasch; als wir ihn in der Kindheit kennenlernten, schien er integraler Bestandteil der Tora (so wird es z.B. für selbstverständlich gehalten, dass Abraham den Monotheismus schon als Kind für sich entdeckte), studieren wir den Midrasch hingegen als Erwachsene, lässt er uns unsere Meinung über diese oder jene Persönlichkeit nachträglich ändern, wenn nicht sogar über die gesamte Handlung samt ihrer Bedeutung. Manchmal erzählt uns auch der Midrasch eine Art der Fortsetzung. Aber tatsächlich (und hier findet sich der Unterschied im Vergleich zu Büchern und Filmen) sind wir selbst die eigentlich wahre Fortsetzung: Das Ende dieser ist bereits bekannt, aber es hängt von uns ab, wann es eintritt.

Übersetzung von Milena Porsch, Studentin der Universität von Regensburg und Praktikantin bei der Zeitungsredaktion der Union der jüdischen Gemeinden von Italien (UCEI).