BECHOL LASHON – DEUTSCH Italien ist in guter Verfassung
Von Guido Vitale
Italienische Opfer von NS-Kriegsverbrechen sollen weiterhin das Recht haben, vor italienischen Gerichten den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des NS-Regimes zu verklagen. Das hat das italienische Verfassungsgericht festgestellt, und damit Gesetze, die solche Klagen verhindern sollen, als verfassungswidrig erklärt. Dieses Urteil bedeutet, dass die sogenannte Staatenimmunität nicht im Falle von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angewandt werden darf. Wenn in der Verfassung als unantastbar festgelegte Rechte verletzt werden, darf eine juristische Verfolgung nicht eingeschränkt werden.
Die Union der Jüdischen Gemeinden Italiens hat dieses Urteil als beispielhaft und mit hohem moralischen Wert begrüßt. Es verhelfe den Opfern von Verfolgung und Völkermord und deren Nachkommen zu Gerechtigkeit. Dieses Urteil zwinge alle Staaten dazu, die Verfassung, die sich Italien 1948 nach der endgültigen Niederlage der nationalsozialischen und faschistischen Diktaturen und ihrer systematischen Ausrottungspolitik gegeben hat, zu respektieren. Die italienischen Juden glauben, dass dieses Urteil ein wichtiger Schritt ist in Richtung der Freiheit und der Gleichheit aller Menschen.
Das Urteil des Gerichts bezieht sich konkret auf den Fall von 244 Zivilisten, die von deutschen Soldaten am 29. Juni 1944 in den Städten Civitella in Val di Chiana, Cornia und San Pancrazio ermordet wurden. Es ist jedoch klar, dass der jetzt festgelegte Grundsatz, dass es keine Immunität für Staaten, die strafbarer Handlungen gegen die Zivilbevölkerung beschuldigt werden, geben darf, eine Reihe anderer Schadensersatzklagen nach sich ziehen wird. Das wird zum Konflikt mit der deutschen Bundesregierung führen. Offenbar ist Deutschland nicht bereit, die Prinzipien der italienischen Verfassung zu respektieren. Das gilt auch für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der die deutsche Auffassung im Jahr 2012 bestätigt hatte.
Doch die Dinge entwickeln sich. Das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts hat das große Verdienst, klargestellt zu haben, dass die Verbrechen der nationalsozialistischen und faschistischen Diktaturen niemals vergessen werden dürfen und dass es für sie nie Straffreiheit geben kann. Anders formuliert: Dass sich Gerechtigkeit nicht den Forderungen von Regierungen beugen muss.
(Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 30. Oktober 2014)