„Institutionelle Verantwortung und verfassungsrechtliche Kohärenz verlangen den Verzicht auf jedes nostalgische Gefühl“

Am 27. Dezember 2022 wird der 75. Jahrestag der Erlassung der Verfassung der Italienischen Republik begangen. In einer Mitteilung, betont die UCEI-Präsidentin Noemi Di Segni wie folgt: „Es geht um die Festigung unserer antifaschistischen Demokratie, unser solidester Anker und Anhaltspunkt nicht nur auf gesetzgebender Ebene. Am Vorabend eines für Italien so wichtigen Tages gibt es jedoch diejenigen, die es für angebracht gehalten haben, einen anderen Jahrestag zu preisen, nämlich den der Gründung der neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI). Der letztere ist eine Partei, die sich nach dem Sturz des kurz zuvor besiegten faschistischen Regimes in ideologische und politische Kontinuität mit der Italienischen Sozialrepublik (RSI) gestellt hat. Man spricht hier über eine Regierung der unbeugsamen Faschisten, die aktiv an der Deportation der italienischen Juden mitwirkten.“
So sagt Di Segni weiter: „Es ist beklagenswert, dass gerade die Träger hoher institutionellen Ämter es bekräftigen, indem sie diese nostalgischen Gefühle legitimieren. Wir heben die Erwartung hervor, dass nicht nur die Rassengesetze von 1938 als absolutes Übel verurteilt werden, sondern auch der Faschismus und sein Ableger, nämlich die RSI, als ein Übel für ganz Italien sowie für sein bisher verborgenes und heute immer deutlicher Erbe.“
Die Rassengesetze, erinnert sie sich, „wurden nicht in einem kosmischen Vakuum erlassen, sondern durch ein System von Machtmissbrauch und Gewalt. Wenn wir sie heute verurteilen, müssen wir uns an das Gewicht der Diktatur und an derjenigen, die sie erlassen haben, erinnern. Die institutionelle Verantwortung und die verfassungsrechtliche Kohärenz verlangen den Verzicht auf jedes nostalgische Gefühl“.
Die Bedeutung dieses 75. Jahrestages steht auch im Mittelpunkt einer Betrachtung, die kürzlich in der italienischen Tageszeitung La Repubblica an prominenter Stelle veröffentlicht worden ist. „Es ist klar, – behauptet Di Segni in ihrer Eröffnungsrede – dass die Verfassunggebende Versammlung unter dem Vorsitz von Umberto Terracini in der Zeit nach der Zerstörung Italiens und dem Weltkrieg vor einer schwierigen Aufgabe stand. Es ging darum, einen wohl-strukturierten Aufbau vorzuschlagen, der Italien als Nation und als Volk seine Würde zurückgeben konnte, wie auch die Fähigkeit, sich als europäische Demokratie zu behaupten und anerkennen zu lassen, ohne dies jemals erfahren zu haben. Der Vorschlag beinhaltete auch die Fähigkeit, seinen Bürgern die Souveränität zu übertragen, die sich in Freiheiten und in der Ausübung von Rechten niederschlägt, welche lange verweigert wurden. Der Text wurde schließlich nach langen Monaten feiner Ausarbeitung und lebhafter Debatten angenommen. Er spiegelt den Kampf für die Befreiung und das Überleben des Landes wider und war notwendigerweise auch das Ergebnis von Kompromissen zwischen verschiedenen Seelen und Stimmen, bei denen viele maßgebliche Historiker und Juristen verweilt haben“.
Sie schreibt: „Als Bürgerin und UCEI-Präsidentin möchte ich einen Denkanstoß über die Bedeutung dieser Herausforderung für die Zukunft unserer Kinder und Italiens als Ganzes geben. Eine Zukunft, die nicht gewählt und gesichert werden kann, wenn keine Klarheit über die Vergangenheit und über die Bedeutung besteht, die die Normen in ihrer Gesamtheit noch heute haben, über das Konzept des kollektiven Gedächtnisses, die Bedeutsamkeit der Rechte und das Legalitätsprinzip“.
„Die Verfassung enthält jenseits der Terminologie und der damaligen politischen Dialektik eine Reihe von Werten, die heute ‚selbstverständlich‘ und unverzichtbar scheinen. Für mich sind die Aussagen und die Vorschriften nicht nur eine mit der blutigen Feder der Nachkriegszeit geschriebene Beanspruchung, sondern sie sind Spuren eines jahrtausendealten jüdischen Denkens, eine Warnung an diejenigen, die Massaker planen, und biblische Grundlagen, die sich an folgende Figuren wenden: an den einzelnen Bürger ebenso wie an die Regierenden, an den Richter als auch an den Straftäter, an den Arbeitgeber als auch an den Steuerzahler, an die Eltern als auch an die Erzieher und an diejenigen, die unsere Grenzern verteidigen sollen. Sie sind Spuren eines uralten Wissens, das im Laufe der Jahrhunderte weitergegeben wurde. Ein Wissen, das in einem Wechselspiel von Souveränität, Verfolgung und Isolation den Imperativ des Gedächtnisses überliefert hat, der den Schutz für des Fremden, die Fürsorge für die Ausgegrenzten und den Respekt vor Menschen mit Behinderungen gewährleistet, der den Menschen für die Sorge um die Umwelt und auch das Wohl der Tiere verantwortlich macht. Diese Anklänge jüdischen Denkens lese ich in der Verfassungsurkunde, und gerade deshalb liegt sie mir so sehr am Herzen. Die Offensichtlichkeit kann sich nicht in Gleichgültigkeit oder Selektivität von Warnungen und Verantwortlichkeiten ausdrücken“.
„Am 75. Jahrestag der Verkündigung der Verfassung, die wir atmen und als Grundlage unseres Systems des privaten und öffentlichen Lebens gelten, müssen wir uns fragen, was gereift ist und gefestigt hat, und was dagegen noch unbegreiflich oder schlecht ausgedacht ist. Erstens in Bezug auf das Legalitätsprinzip und den Umfang der Souveränität, die das Volk im Rahmen der Verfassung ausüben soll. Legalität ist nicht nur Mehrheitsbeschluss nach Vorschrift und die Einhaltung von Verfahrensweise und Prozesse; sie ist keine gesetzliche Erlaubnis zur Verrichtung von Handlungen, die den Grundlagen des Lebens und des Zusammenlebens widersprechen. Sie ist die ständige Kohärenz und Darstellung des Konzepts, dass die von Menschen geschriebenen Gesetze dazu dienen, Unterstützung und Trost für den Bedürfnissen des Einzelnen und der Gemeinschaft zu bieten. Sie haben aber niemals das Ziel, Macht zu missbrauchen und überwältigen“. “Legalität bedeutet heute, indem man auf die verfassungsmäßigen Freiheiten verweist, dass die Verfassungsbestimmungen genutzt und nicht ausgenutzt werden, wobei die Entstehung dieser Bestimmungen klar sein muss“.
„Rede-, Demonstrations-, Presse- und Vereinigungsfreiheit sind die Antwort auf den Totalitarismus und Faschismus, der Italien erstickt hat. Sie sind keine wiedergewonnenen Freiheiten, die heute Standorte unbegrenzter Macht erteilen und kein Mittel zur Verbreitung von Hass und Diskriminierung, zur Verdrehung der Wahrheit und falschen Feinde. Es muss klargestellt werden, dass die Verweigerung der Gleichheit und Freiheit für italienische Bürger jüdischer Religion vor 85 Jahren durch das Notstandsdekret und die legalisierte Verfolgung nur die Krönung der Schandtaten des faschistischen Regimes war“.
„Die Verurteilung der Rassengesetze als absolutes Übel, die wir in den letzten Tagen sehr sorgfältig gehört haben, kann nicht wählerisch sein. Sie kann auch nicht aus der Betrachtung herausgerissen sein, was das faschistische Regime in der gesamten Zeit des Faschismus und vom ersten Tag an, an dem es mit “Vollmacht” ausgestattet wurde, begangen hat. Die Verurteilung, auf die ich warte – wenn man nach Legalität und Verfassungsgrundsätze leben und regieren will – ist die des Faschismus als Ganzes bis zu seinem formellen Untergang sowie die derjenigen, die sein verzweifeltes Überleben anstrebten: zunächst mit der Republik von Salò und dann in den Nischen der 1946 gewährten Amnestie. Eine Amnestie, die nicht nur verhinderte, dass die Verantwortlichen für faschistischen Verbrechen (die wir heute ebenso offensichtlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit nennen würden) nicht vor Gericht gestellt wurden, sondern die sogar ermöglichte, dass prominente Persönlichkeiten des faschistischen Regimes sich im demokratischen System wiederfanden und in einigen Fällen führende institutionelle Rollen erreichten“.
„Die Verurteilung, die ich erwarte, ist die eines Regimes, das aus seinem Führer, seinen propagandistischen Mottos, seinen verherrlichenden Werken und Symbolen besteht. Heute äußern viele, seien es Einzelpersonen oder Gruppierungen verschiedener Art, Nostalgie und den Wunsch, zu diesem Regime zurückzukehren. Sie vergessen aber dabei, dass dieses exzentrische Übel ab 1938 nicht nur jenes ein Promille der jüdischen Bürger zerstört hat, sondern das gesamte italienische Volk durch die nazifaschistischen Massaker verwüstete, deren Tonnen von versiegelten Akten auch nach 75 Jahren noch auf Antworten warten“.
Di Segni schließt mit den Worten: „Selbst erfahrene Historiker und Juristen haben heute eine bedeutsame Lesart dieses Jahrestages angeboten, der am Anfang eines Jahres steht, das von Jahrestagen, Veranstaltungen und Zeremonien im Namen eines kollektiven Gedächtnisses geprägt sein wird. Meine soll eine einfache Überlegung über den Ursprung der Werte sein, die wir alle zu verteidigen abgerufen sind, und zugleich eine herzliche Einladung zur Kohärenz“.

Im Bild: Das Titelblatt der Sonderausgabe der Gazzetta Ufficiale, in der die Verfassung der Italienischen Republik am 27. Dezember 1947 veröffentlicht wurde. Letztere trat am 1. Januar 1948 in Kraft.

Übersetzt von Valentina Megera, durchgesehen von Maria Cianciuolo, Schülerinnen der Hochschule für moderne Sprachen für Dolmetscher und Übersetzer der Universität von Triest, Praktikantinnen in der Redaktion der Vereinigung der Italienischen Jüdischen Gemeinschaften – Pagine Ebraiche.