“Lemberg, der Moment der Erinnerung” 

Bei den Bildern, die ihn am meisten beeindruckten, war ein überfüllter Bahnhof, voll mit Menschen, die versuchen, sich zu retten, indem sie in den ersten abfahrenden Zug einsteigen. Manchmal sogar, ohne den Weg oder das Ziel zu kennen. Alles, um sich aus jener prekären Lage zu entfernen.  
Olek Mincer, Theater- und Filmschauspieler, kennt den Bahnhof sehr gut. Es handelt sich um „Lemberg-Golovni“, eines der Meisterwerke des Jugendstils aus den Gebieten, die zum ehemaligen Galizien gehörten. Eine Zeit, die voll mit jüdischem Leben strahlte. Genau in Lemberg kam er auf die Welt im Jahr 1957, in der damaligen Sowjetunion. Von hier aus fuhren seine Eltern weg, er war noch ein Kleinkind mit gerade einmal zwei Jahren, als sie beschlossen, nach Warschau auszuwandern.   
„Das war eine schwierige und anstrengende Reise“, erklärt Olek. „In jedem Wagen saßen zwei Familien, zusammen mit sperrigen Möbeln und Haushaltsgeräten von allen Arten. In Polen gab es solchen Dingen nicht. Wer konnte – und wir waren ein Teil von denen, die Glück hatten – versuchte diese Lücke so zu füllen.“ Oleks Familie war relativ wohlhabend und verließ Lemberg nicht wegen Verfolgung oder Gefahr aus einem spezifischen Grund. Er bestätigt, dass die grauenvollen Bilder dieser Wochen ihm zurück zu der Erinnerung an jene Reise gebracht hätten, ein Wendepunkt in ihrem Leben.  
Ausgebildet am Jüdischen Staatstheater in Warschau, absolvierte Mincer anschließend das Studio Fersen in Rom und lebt seit 1984 in Italien. Im Moment bleiben sein Herz und Kopf in Lemberg, seine Heimatstadt. „Ich war zum letzten Mal vor neun Jahren dort. Es waren gerade Sanierungsarbeiten, die wertvolle Ergebnisse herausgebracht hatten: Unter dem Putz, um so zu sagen, aus der Sowjetzeit waren zum Beispiel sowohl polnische als auch deutsche Schriftzeichen zum Vorschein gekommen. Lemberg, dessen Stadtzentrum zur UNESCO-Kulturerbe gehört, erschien vor mir mit ihrer blendenden Pracht. Eine geschliffene, schöne und faszinierende Stadt.“ 
Einer der Orte, die ihm sehr am Herzen liegen, von den vielen die er aufzählt, ist genau der Bahnhof. „Das ist ein typisches Beispiel der Erzählungen meines Großvaters Jakub, der bei dem Charme jeder seinen Komponenten verweilte. Vor allem bei den Cafés mit klarem mitteleuropäischem Einfluss. Solche Cafés findest du nur in Wien, sagte er mir.“  
Wahrscheinlich ist es aus diesem Grund, warum er sich, als er nach Italien kam, selten so wohl gefühlt habe wie in Triest. Er betont, dass die Verbindung mit Lemberg sehr stark emotional sei, Lemberg sei genauso wichtig für ihre Bewohner wie Neapel für Neapolitanern. Eine Verbindung tief bis im Innersten, die von Orten, Treffpunkten und Frequentierung charakterisiert sei. Dazu kommt die Sprache, ein einzigartiger Dialekt, die von Mincer als „unverwechselbar“ beschrieben wird. Lemberg stellt aber auch die Erinnerung an eine beinahe vollständige Auslöschung dar: die Vernichtung der lebhaften jüdischen Gemeinschaft aus der Zeit des Holocausts dar. Oleks Familie wurde von diesen Ereignissen dramatisch betroffen, da viele Verwandte deportiert wurden, um dann in Vernichtungslagern getötet zu werden.  
Eine Risswunde, die der Schauspieler aus Lemberg teilweise verarbeitet hat, in dem er an den Film „Darkness“ der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland teilgenommen hat. Dieser basiert auf dem Buch „In The Sewers of Lvov“ von Robert Marshall und wurde bei der 2012 Oscarverleihung für den besten fremdsprachigen Film nominiert. Er erzählt von dem Mut in den Abwasserkanälen von Lemberg während der Nazi-Besatzung. Die Hauptperson war der „Gerechte unter den Völkern“ Leopold Socha, welcher dank seiner Kenntnis mit der lokalen Kanalisation viele Juden rettete, indem er sie darin versteckte und ihnen zustand. Eine Heldentat, die vierzehn endlose Monate dauerte.  
Der Film wurde nicht in Lemberg gedreht, aber laut Mincer ist das kein so wichtiges Detail. „In diesen Kanälen zu sein, obwohl sie künstlich sind und auch in einem anderen Kontext wie in Leipzig, ist eine sehr starke Erfahrung gewesen. Es ist unvermeidlich, an den Ereignissen von jenen Jahren zu denken, an die Last von Trauer und von schrecklichen Wunden. Ich werde mein ganzes Leben lang damit konfrontiert.“ 
Die Idee ist, dass es noch viel darüber zu sagen gibt. Vor ein paar Jahren, nach dieser Erkenntnis, hatte er ein Projekt skizziert, der „Lembergs Herzens“ hieß. Ein erster Versuch, eine echte Familiensaga zu schreiben. Am Anfang wurde sie nach ein paar Absätzen zur Seite geschoben. Nun gesteht er jedoch “Ich denke ernsthaft darüber nach, an ihr weiterzuschreiben. Er schlussfolgert, dass es vielleicht an der Zeit sei. 
 
Übersetzt von Maria Cianciuolo Schulerin der Hochschule für moderne Sprachen für Dolmetscher und Übersetzer der Universität von Triest, Praktikantin in der Redaktion der Vereinigung der Italienischen Jüdischen Gemeinschaften – Pagine Ebraiche. 

Veröffentlicht in Pagine Ebraiche im April 2022